
Estland hat sich seit seiner Unabhängigkeit 1991 konsequent zu einem digitalen Staat («e-Estonia») entwickelt. Eine zentrale Grundlage dafür ist die vor über 20 Jahren eingeführte elektronische Identität. Sie erlaubt nicht nur volldigitale Behördengänge, sondern dient auch als Schlüssel zum E-Voting. In den letzten Jahren wurde die Lösung immer wieder weiterentwickelt: Die E-ID ist mittlerweile als ID-Karte mit Kartenleser, als Mobile-ID auf Basis der eigenen SIM-Karte oder als Smart-ID-App auf dem Smartphone verfügbar. Die Anpassung an die technologischen Weiterentwicklungen erfolgt dabei schrittweise und wohlüberlegt: Ein Gesetz, das die Variante der Smart-ID-App als Identifikationsmechanismus für E-Voting zulässt, wurde erst 2024 verabschiedet.
Ein ausgeklügeltes Sicherheitskonzept erlaubt es, mehrfach abzustimmen – gezählt wird nur die letzte Stimme. Eine persönliche Stimmabgabe im Wahllokal hat Vorrang, um Manipulation durch Zwangsstimmen zu verhindern. Die Wählerinnen und Wähler können ihre Stimme zudem bis zum offiziellen Wahltag beliebig oft ändern, was zusätzliche Sicherheit und Flexibilität schafft.
Multikanalansatz und hohe Akzeptanz
E-Voting ist in Estland ein zusätzlicher Kanal neben klassischem Urnengang und Briefwahl. Dieser Multikanalansatz sorgt für breite Akzeptanz. Besonders für im Ausland lebende Estinnen und Esten ist die Online-Stimmabgabe ein Vorteil. Die Beteiligung zeigt dies eindrucksvoll: Während bei der Einführung 2005 nur 2 % online wählten, lag der Anteil 2023 bei 51 % – ein historischer Höchstwert.
Studien zeigen: E-Voting erhöht die Wahlbeteiligung – national um bis zu 5 %, kommunal immerhin um 1.5 %. Die Digitalisierung demokratischer Prozesse wird so nicht nur effizienter, sondern auch inklusiver.
Der logische nächste Schritt: Mobile Voting
Die nächste Stufe der elektronischen Stimmabgabe ist bereits geplant: das Mobile Voting mittels Smartphone oder Tablet («m-Voting»). Ein entsprechendes Gesetz zur Standardisierung aller elektronischen Wahlverfahren trat im Oktober 2024 in Kraft. Ziel ist es, künftig auch über mobile Endgeräte einfach und sicher abstimmen zu können – ein Schritt, der Estland weltweit zum Vorreiter machen könnte. Doch dieser Fortschritt ist nicht unumstritten. Die nationale Wahlkommission warnt vor zu hastiger Umsetzung. Besonders der Datenschutz, die Verifizierbarkeit der Stimmen und die technische Absicherung seien noch nicht ausreichend gewährleistet. Kritiker fordern mehr Zeit für Tests, den Einbezug wissenschaftlicher Institutionen und verbesserte Kontrollmechanismen – etwa durch biometrische Verfahren.
Warum ist Estland digital so weit fortgeschritten?
Estlands digitale Vorreiterrolle ist das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen, technologischer Innovationen und einer digitalaffinen Bevölkerung.
- Frühe strategische Weichenstellung: Nach der Unabhängigkeit 1991 entschied sich Estland bewusst für den Aufbau digitaler Infrastrukturen. Programme wie «Tiigrihüpe» (Tiger Leap) investierten ab 1996 massiv in die IT-Bildung und Internetanbindung aller Schulen.
- Digitale Identität und X-Road: Seit 2002 verfügt jeder Bürger über eine elektronische ID-Karte, die den Zugang zu über 600 staatlichen Online-Diensten ermöglicht. Das Rückgrat bildet die Datenplattform X-Road, die einen sicheren Austausch zwischen Behörden und privaten Diensten gewährleistet.
- Rechtlicher Rahmen und Datenschutz: Bereits 2000 wurden Gesetze zur digitalen Signatur und zum Datenschutz verabschiedet, die elektronische Unterschriften rechtlich anerkennen und die Privatsphäre der Nutzer schützen.
- Kultur des Vertrauens und der Innovation: Die estnische Bevölkerung zeigt eine hohe Akzeptanz gegenüber digitalen Lösungen. Über 62 % verfügen über grundlegende digitale Kompetenzen, was über dem EU-Durchschnitt liegt.
- E-Residency und internationale Ausstrahlung: Mit dem E-Residency-Programm ermöglicht Estland seit 2014 auch Nicht-Bürgern den Zugang zu seinen digitalen Diensten, was das Land für digitale Nomaden und Unternehmer weltweit attraktiv macht.
Lehren für die Schweiz: Chancen und Grenzen
Estland zeigt eindrücklich, dass E-Voting sicher, bequem und breit akzeptiert umgesetzt werden kann. Für die Schweiz bedeutet das jedoch nicht, ein identisches Modell zu übernehmen. Die politische Kultur, föderale Strukturen und unterschiedliche Digitalisierungsgrade machen eine direkte Übertragung schwierig.
Relevant bleiben Erfolgsfaktoren aus der estnischen E-Voting-Einführung, die auch in der Schweiz berücksichtigt werden:
- Klare gesetzliche Rahmenbedingungen
- Multikanalansatz statt Zwangsdigitalisierung
- Hohe Transparenz und Kontrolle
- Stärkung des Vertrauens durch schrittweise Einführung
Gerade das Vertrauen der Bevölkerung ist zentral. Estland geniesst hier einen Bonus: Laut Umfragen vertrauen 82 % der Bürgerinnen und Bürger den digitalen Diensten des Staates – ein Spitzenwert in der EU. Wie die nationale E-Government-Studie 2025 zeigt, liegt die Schweiz beim Vertrauen derzeit noch darunter. Die Tendenz stimmt jedoch positiv: Das Vertrauen steigt in allen Dimensionen – auch beim von der Bevölkerung als wichtig eingestuften Datenschutz.
Für die Schweiz lohnt sich der Blick nach Norden. Nicht als Blaupause, aber als Inspiration, wie digitale Demokratie konkret funktionieren kann.